Werne. Der Geist aus dem Handy hält den Spiegel der bösen Königin für einen Flachbildschirm, Märchenerzähler Grimm kann mit einem „Prank“ (Streich) nichts anfangen. Zeitgeist gegen alte Geschichten, Technik gegen Fantasie: In der Freilichtbühne Werne prallten am Samstagnachmittag (10.05.2025) zwei Welten aufeinander.
Mit einer modernen Reise in Grimms Märchenwelt startete das Team in die diesjährige Saison. Und der kann man nur wünschen, dass sie bleibt, wie sie angefangen hat: mit viel Sonne, aber nicht zu hohen Temperaturen, sprich, mit idealem Freilichtbühnenwetter.
Dass sich die Sicht der Zuschauer bisweilen etwas vernebelte, hing dementsprechend nicht mit dem Klima, sondern mit Bühneneffekten zusammen. Immer, wenn Geister und Menschen hin- und hergezaubert wurden, kamen Rauchschwaden zum Einsatz. Auch sonst hatten es Schminkteam, Kulissenbauer und Kostümteam an nichts fehlen lassen, um die mehr als 700 Zuschauern auf die märchenhafte Reise mitzunehmen. Die Laubbäume rings ums Bühnenrund bildeten unaufgefordert den perfekten Hintergrund für einen Märchenwald. Dazu hatten die Ehrenamtlichen dem Haus in der Bühnenmitte die Fassade einer zinnenbewehrten Ritterburg verpasst.

Bespielt wurde diese auch auf der Empore – vor allem von der bösen Königin, die die Spielfläche zu einem Laufsteg der Boshaftigkeit verwandelte. Grimms Top-Prinzessinnen nebst guter Fee rauschten in Gewändern einher, die jedes Kinderherz höher schlagen lassen mussten. Charlotte Bispinghoff war vom Schminkteam mit einem leuchtenden orangefarbenen Katzengesicht versehen worden. Eines der prachtvollsten Kostüme trug der Hahn der Bremer Stadtmusikanten – ein üppiges Federkleid aus Dutzenden bunten Stoffstreifen.

Auffallend normal nahm sich dazwischen die Kleidung der Hauptfigur Leon aus. In Cargohose und T-Shirt daddelte der Teenager lieber am Smartphone, als wie seine Schwester Mia in alten Bücherkisten zu wühlen. Auch eine 200 Jahre alte Ausgabe von Grimms Märchen war für ihn nichts im Vergleich zu den Möglichkeiten künstlicher Intelligenz. Doch den Herablassenden wird in jedem Märchen, das etwas auf sich hält, eine Lehre erteilt. So hielt es auch Jens Benner, Autor des adspecta Theaterverlags, von dem das Stück „Ein Zeitgeist im Märchenland“ stammt. Ein magisches Stirnband zauberte erst den Märchenerzähler Grimm aus dem Buch und danach den Zeitgeist Jojo aus dem Handy.

Umgehend lieferten sich die beiden Herren einen Streit zwischen digitaler und erzählender Kultur, der darin gipfelte, dass sie sich schließlich mit Leon im Märchenland wiederfanden. Dort wirbelten sie die Geschichten von Schneewittchen, Aschenputtel, Dornröschen und Rumpelstilzchen gehörig durcheinander. Unter der Regie von Franca Neumann und Marvin Müller wurde das mithilfe bekannter Märchenfiguren, Gesangseinlagen und dialogreicher Szenen erzählt. Da gab es Wortspiele, an denen vor allem die Erwachsenen ihren Spaß hatten. Etwa, wenn der Zeitgeist die böse Königin ermahnte, dass es total „out“ sei, die Konkurrenz – sprich: Schneewittchen – zu töten. Im 21. Jahrhundert würde das mittels einer Castingshow erledigt. Zu dieser wollte der Zeitgeist alle verfügbaren Prinzessinnen des Märchenlands zusammentrommeln. Leider wurde er selbst ein Opfer der königlichen Intrigen, worauf er die blondgelockte Böse am Ende als „Seniorenbarbie“ beschimpfte. Die Kinder wiederum hatten ihre Freude am „Wiedersehen“ mit bekannten Märchengestalten. Und sie spielten bereitwillig mit, wenn sie dazu aufgefordert wurden – sei es, ein Geheimnis zu bewahren oder den Namen von Rumpelstilzchen zu verraten.

Silas Nüsken machte als Zeitgeist dessen Namen „Jojo“ alle Ehre. Wie ein hyperaktives Spielzeug wischte er über die Bühne und über seine Festplatte. Damit versuchte er sich in amüsanter Unkenntnis märchenhafter Magie zurechtzufinden – nur, um im Käfig der Knusperhexe zu landen. Holger Schulte bildete als dozierfreudiger Grimm den streitlustigen Gegenpol. Tom Neugebauer schlüpfte ebenso überzeugend in den anfänglichen Verdruss von Leon sowie in dessen wiederkehrende Freude an der Fantasie. Jutta Neugebauer setzte als böse Königin gut gelaunt um, was der Zeitgeist über sie sagte: „egoistisch sein und abzocken, was geht“. Ihren perfekten Kompagnon fand sie im durchtriebenen Rabenhorst, von Dunja Nüsken mit kriecherischer Häme gespielt.

Die beiden Ränkeschmiede waren am Ende die Verlierer. Einen wirklichen Gewinner auf der anderen Seite gab es nicht: Leon freute sich mit Jojo und Grimm über zwei neue Freunde.

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