Werne. Als Reinhold Stockbrügger vor einem halben Jahrhundert den Motettenkreis ins Leben rief, folgte er den Zeichen seiner Zeit: Die Namengebung zeugt von einer musikalischen Aufbruchstimmung der Nachkriegsjahrzehnte.
Einen Chor hatte es seit dem 1. Advent 1925 an der evangelischen Stadtkirche gegeben, wie die Martin-Luther-Kirche damals hieß. „Über seine Tätigkeit wissen wir kaum etwas“, bedauert Jürgen Ruppert, der von 2011 bis 2019 Sprecher des Motettenkreises war. Nach dem Krieg lebte der evangelische Chor wieder auf. 1963 übernahm Reinhold Stockbrügger, Rektor der Paul-Gerhardt-Schule (heute Uhlandschule) das Ensemble. Regelmäßige Abendmusiken und Konzerte gehörten zum Programm.
Ende der 1960er-Jahre hatte der Chor mit einem Mitgliederschwund zu kämpfen. Stockbrügger erkannte, dass eine Neuausrichtung vonnöten sei. Ein zugkräftiger Name sollte Aufmerksamkeit wecken: Seit dem 15. Juni 1971 traten die Sängerinnen und Sänger offiziell als „Motettenkreis“ auf.
Eine Bezeichnung von historischer Bedeutung. „In den Nachkriegsjahrzehnten firmierten viele Gesangsgruppen lieber als ‚Kreis‘ denn als ‚Chor‘“, erklärt der derzeitige Chorleiter Rainer Kamp. Das sollte einen Gegenpol zum konventionell-professionellen Konzertbetrieb demonstrieren. Bezeichnungen wie „Kreis“ oder „Abendmusik“ suggerierten eine lebendigere, offenere Atmosphäre, die das Musizieren für Laien attraktiv machen sollte. „Das sind Vorstellungen aus der Jugendmusikbewegung, die eher protestantisch zu verorten ist“, sagt Kamp.
Stockbrügger habe von diesen Idealen her gedacht: „Er gehörte zu einer starken Riege von Chorleitern im Kirchenkreis Hamm.“ Diese legten den sanglichen Schwerpunkt auf die Verkündigung des Wortes und setzten neue Akzente, indem sie sich auf die Ursprünge protestantischer Kirchenmusik besannen – auf die klare Linearität der Choräle von Heinrich Schütz oder Johann Hermann Schein. Auf der anderen Seite wurden Motetten zeitgenössischer Komponisten wie Ernst Pepping oder Hugo Distler gepflegt, die sich der Erneuerungsbewegung verpflichtet fühlten. „Ich erinnere mich an Chorbücher, da stand auf der einen Seite ein Choral von Schütz, auf der anderen Seite einer von Pepping“, sagt Marie Voss, amtierende Sprecherin des Motettenkreises.

Der neue Name zog. Die Zahl der Chormitglieder stieg kontinuierlich. Die Konzerttätigkeit beschränkte sich auf zwei bis drei Projekte im Jahr, was für die Mitgliederwerbung von Vorteil war. „Man singt tolle Sachen, muss aber nicht jeden Sonntag im Gottesdienst zur Verfügung stehen“, fasst Voss zusammen. Auf dem Programm standen anfangs österliche oder adventliche Abendmusiken, Passionskonzerte und ein Konzert zum 75-jährigen Jubiläum der Evangelischen Stadtkirche. 1981 führte der Motettenkreis mit der Markus-Passion von Bach erstmals ein großes Werk auf. Ein Jahr zuvor hatte die Kooperation mit dem Westfälischen Sinfonieorchester (heute Teil der Neuen Philharmonie Westfalen) begonnen.
Dieses Orchester stand bis vor wenigen Jahren den Chören im Kreis Unna für ein bestimmtes Kontingent an Aufführungen zur Verfügung. Ruppert: „Das ermöglichte uns, große Werke mit Orchester und Solisten aufzuführen – was wir sonst nicht hätten bezahlen können.“ 30 Konzerte stellte der Motettenkreis mithilfe des Sinfonieorchesters auf die Beine, zum letzten Mal 2017 beim Reformationsjubiläum. In besonderer Erinnerung blieben Haydns Schöpfung und ein Dankkonzert nach der Wiedervereinigung 1990 in St. Christophorus. 1991 reiste der Motettenkreis zu einem Konzert nach Kyritz, um die junge Städtepartnerschaft mit Werne zu feiern. 1994 folgte eine Reise in die französische Partnerstadt Bailleul.
Als Organist engagierte sich Stockbrügger 1980 für die Anschaffung einer Beckerath-Orgel in der Martin-Luther-Kirche. „Ein wunderbares Instrument“, schwärmt Kamp, „dessen Klangspektrum der barocken Kirchenmusik verpflichtet ist.“ Ganz im Sinne der Neuorientierung, die Stockbrügger am Herzen lag. Nach seinem Tod im Jahr 2007 übernahm übergangsweise das Chormitglied Anja Osterkemper die Leitung; mit Thomas Fabrizi fand der Motettenkreis dann für mehrere Jahre einen Nachfolger.
Nachdem Fabrizi zunehmend im Raum Magdeburg gebunden war, konnte Jürgen Ruppert den Kirchenmusiker Rainer Kamp als Nachfolger gewinnen. Seit 2015 leitet er den Motettenkreis und erweiterte dessen Bandbreite durch eine Kooperation mit dem ebenfalls von ihm geleiteten Kirchenchor St. Victor in Herringen.
2016 brachte Kamp beide Ensembles erstmals für ein doppelchöriges Konzert zusammen; 2019 bildete das „Stabat Mater“ von Antonín Dvořák den letzten Höhepunkt der Zusammenarbeit vor der Coronakrise. Für die instrumentale Begleitung fand Kamp eine neue Lösung: Dank Kontakten aus seiner Zeit als Kantor in Rhynern kann er auf einen Fundus von Profimusikern zurückgreifen, die das Kammerorchester „Kamerata Lupia“ bilden.
Obwohl die Coronapandemie das Chorleben extrem eingeschränkt hat, sehen Kamp, Voss und Ruppert hoffnungsvoll in die Zukunft. Zwar können Proben und Aufführungen nur unter Auflagen und mit einer beschränkten Zahl von Sängern und Instrumentalisten stattfinden. Doch viele Musikverlage haben sich umgestellt und geben große Werke für kleinere Besetzungen heraus. „Und trotz Corona kommen neue junge Menschen dazu“, sagt Kamp, „sodass wir ein gutes Fundament in allen Stimmlagen haben.“
Konzert des Motettenkreises im Kolpingsaal
Am Sonntag, 19. September, ab 19.30 Uhr findet ein Konzert des Motettenkreises im Kolpingsaal statt, mit einer reduzierten Besetzung aus 24 Sängerinnen und Sängern sowie Instrumentalbegleitung. Aufgeführt werden Werke von Johannes Brahms („Schicksalslied“, „Vier ernste Gesänge“) sowie „Gott in Verkleidung“ von Lars-Erik Larsson. Ein Weihnachtskonzert mit einer konzertanten Aufführung des „Weihnachtsmusical“ von Michael Lippert ist für den 27. November geplant; das große Festkonzert zum Jubiläum wurde für den 27. März 2022 angesetzt. Weitere Informationen: www.motettenkreis-werne.de.