Werne. „Das ist ja wie ein Sumpf, den man nicht trocken legen kann“, stellte eine Zuhörerin im Vortragsraum des St. Christophorus-Gymnasiums kopfschüttelnd fest. Anhand von Statistiken und Fallbeispielen legte Dr. David Rüschenschmidt am Mittwochabend (19. Oktober) das Ausmaß von sexuellem Missbrauch durch Kleriker im Bistum Münster dar.
Keine 20 Frauen und Männer waren der Einladung des kirchlichen Gymnasiums und der katholischen Kirchengemeinde St. Christophorus gefolgt. Den Referenten, Co-Autor der Studie, überraschte das nicht: „Wir werden gar nicht so oft von Gemeinden angefragt, wie man vielleicht denkt.“
Den Wunsch, die Studie unmittelbar vorgestellt zu bekommen, hatten Eltern an den Religionslehrer Dr. Christian Schmidtmann herangetragen. Und bei den Anwesenden war das Interesse groß. Das bewies die offene und lebhafte Diskussion nach dem Vortrag.
Die Zusammenfassung der fast 600 Seiten umfassenden Studie „Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945“ überschrieb Rüschenschmidt mit der Frage „Persönliche Schuld oder strukturelles Versagen“.
Mit der von Bischof Felix Genn vor zwei Jahren in Auftrag gegebenen Studie legte die fünfköpfige Kommission der Universität Münster, bestehend aus vier Historikern und einer Sozialanthropologin, erstmals eine umfassende sozialgeschichtliche Untersuchung zum Thema vor. Dabei ermittelte sie 196 Kleriker als Beschuldigte und 610 Betroffene. „Die Dunkelziffer der Opfer ist jedoch wahrscheinlich zehnmal größer“, betonte Rüschenschmidt. Währen die Betroffenen gesamtgesellschaftlich betrachtet zu zwei Dritteln weiblich sind, verhält es sich im katholischen Kontext umgekehrt: Drei Viertel waren männlich. „Der Missbrauch erfolgt in der Regel zum ersten Mal, wenn die Jungen zwischen zehn und 14 Jahren alt sind, also im Messdieneralter“, sagte Rüschenschmidt.

Im Unterschied zu juristischen Aufarbeitungsverfahren nahm die Münsteraner Studie nicht nur Täter und Opfer in den Blick, sondern auch jene, die Kindern gegenüber eine soziale Verantwortung als „Wächter“ haben: Eltern, Verwandte, Lehrer, andere Priester, Gemeindemitglieder, Personalverantwortliche. Und hier kommt die Kommission unmissverständlich zu folgendem Ergebnis: In ihrer Wächterfunktion haben diese Personengruppen eklatant versagt.
Das spielt eine umso größere Rolle, als viele Taten im Kontext kirchlicher Schulen, Internate und Heime ebenso wie im familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld begangen worden seien. Rüschenschmidt nannte Fallbeispiele, in denen Kinder sich Eltern oder Großeltern offenbart hätten – und die Antwort erhielten: „Der Pfarrer tut so etwas nicht.“
Allen Bischöfen von Münster, die seit Kriegsende im Amt waren, warf die Kommission oft erhebliche Pflichtverletzungen vor, was die Aufklärung der Straftaten anging. So ermöglichte Bischof Heinrich Tenhumberg (im Amt von 1969 bis 1979) einem Priester, der bereits einschlägig verurteilt worden war, den Einsatz in der Seelsorge – wo der Kleriker weiter Missbrauch trieb. Bischof Reinhard Lettmann (im Amt von 1980 bis 2008) war als Weihbischof daran beteiligt, einen Mann zum Priester zu weihen, obwohl dieser für Missbrauchsvergehen bekannt war. Doch das Gremium, dem Lettmann angehörte, folgte der Begründung, dass der Mann „sich ansonsten einwandfrei verhalten habe“.
INFO
Bernhard Frings, Thomas Großbölting, Klaus Große Kracht, Natalie Powroznik, David Rüschenschmidt: Macht und sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche. Betroffene, Beschuldigte und Vertuscher im Bistum Münster seit 1945, Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022, ISBN: 978-3-451-38995-5. Das pdf können Sie hier herunterladen: https://www.uni-muenster.de/imperia/md/content/wwu/journalisten/macht_und_sexueller_missbrauch_im_bistum_muenster.pdf