Werne. Ein Windstoß pustet die weißen Grablichter auf den Klappstühlen aus. Lara Scheer seufzt: „Die Reihe habe ich gerade zum zweiten Mal angezündet.“ Achselzuckend macht sich die Schülerin daran, die Kerzen wieder zu entzünden. Das Wetter meint es nicht gut mit der Lichtinstallation für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Werner Kirchplatz.
Dabei steckt im Verlöschen der Flammen ein starker Symbolwert. Jede Kerze steht für einen Menschen, dessen Lebenslicht durch Zwangsarbeit ausgelöscht wurde.
Nasskalt und grau ist der 27. Januar in diesem Jahr. Durchaus die passende Stimmung für den Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Begangen wird er seit fast 30 Jahren als Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz. Mit der Kerzeninstallation auf dem Kirchplatz will die AG „WEREmember“ des Anne-Frank-Gymnasiums an jene erinnern, die von den Nationalsozialisten in Werne zur Zwangsarbeit gezwungen wurden – und diese nicht überlebten. 111 verstorbene Kinder, Männer und Frauen sind namentlich bekannt und auf dem Friedhof am Südring beerdigt.
„Viele kennen diesen Friedhof gar nicht oder kommen nie dorthin. Daher wollten die Schülerinnen und Schüler die Namen der Opfer ins Stadtzentrum holen“, erklärt Johannes-Joachim Brysch. Der Geschichtslehrer leitet die AG zusammen mit seiner Kollegin Christina Buttkereit. Eindrucksvoll demonstrierten die jungen Menschen die Zahl der Toten: 111 weiße Klappstühle ordneten sie zwischen dem Pfarrheim und der St. Christophorus-Kirche so an, dass die Stuhlreihen wie ein Reihengrab wirkten. Auf jedem Stuhl lag ein Zettel mit dem Namen eines oder einer Zwangsarbeitenden, zusammen mit einem Grablicht.

„Ich finde es krass, wie viele Kinder auch dabei sind.“ Lilly Bessel lässt ihren Blick über die Stühle schweifen. „Manche haben keinen Tag lang gelebt.“ Jedes Mitglied der AG hat die Biografie eines oder einer Zwangsarbeitenden aufgearbeitet. „Wir haben vom Stadtarchiv viel Quellenmaterial erhalten und zu manchen Opfern gab es sehr viele Informationen, wo sie in Werne gewohnt haben, wie sie gestorben sind“, erzählt Lilly Bessel weiter. Was sie sehr nachdenklich gemacht habe: „Es gab auch 16-jährige Zwangsarbeiter. Mein Bruder ist genauso alt, ich will mir das gar nicht vorstellen.“
Mit ihrer Aktion – und auch mit ihrer Patenschaft, die sie für die Gedenkstätte Zwangsarbeit Werne am Südring übernommen haben – will die AG gegen das Vergessen kämpfen. „Es war eine schreckliche Zeit, in der so viele Menschen gestorben sind, das dürfen wir nicht vergessen. Und die Zeitzeugen werden immer weniger“, erklärt Finja Marie Franke. Wie geplant weckt die Lichtinstallation das Interesse der Passanten. Viele bleiben stehen und fragen nach. „Oft haben die Leute durch ihre Familiengeschichte auch noch einen Bezug zum Thema“, sagt Lara Scheer.

So wie Hans-Dieter Kunze, der den Zweiten Weltkrieg als Kind noch erlebt hat. Er habe als Sechsjähriger schon mitbekommen, wie jüdische Nachbarn plötzlich diskriminiert und dann deportiert wurden. „Und ihre Häuser wurden danach ausgeraubt“, erinnert sich der Rentner. „Meine Patentante war Halbjüdin, es war nur Glück, dass sie überlebt hat.“ Bevor er weitergeht, nickt er den Schülerinnen zu. „Es ist toll, dass ihr das macht. Man muss das im Kopf behalten.“
Heute um 17 Uhr findet an der Gedenkstätte Zwangsarbeit Werne am Südring eine Kranzniederlegung für die Opfer statt.